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Alle Schuhe führen auf den Berg

Mohnenfluh-Besteigung einmal anders

Mohnenfluh Schröcken
Mohnenfluh (re.) von Schröcken aus

Kennt ihr das? Ihr nehmt euch seit Monaten oder Jahren etwas Bestimmtes vor, irgendwie klappt die Umsetzung aber nicht. Mir ist es mit der Mohnenfluh so gegangen. Die Mohnenfluh ist ein Berg, 2544 Meter hoch, schroff und beeindruckend. Einer der Berge, die meine Heimatgemeinde Schröcken umrahmen und auf dem ich noch nicht war. Nicht als Kind, nicht in meiner Jugend und erst recht nicht als Erwachsene, die längst schon ausgezogen war, um eine andere Welt kennenzulernen.

hinteres Felltal, Schröcken, Mohnenfluh
Oberhalb der Wasserfälle im hinteren Felltal

Losgelassen hat sie mich nie, die Mohnenfluh. Jedes Mal, wenn ich auf Heimatbesuch war, stand sie auf meiner To-do-Liste. Aber nie hat es gepasst. Entweder war Winter, schlechtes Wetter, hatte ich keine Zeit oder – so schlimm das jetzt klingt – keine Lust. Vor ein paar Tagen war es dann endlich so weit. Aber mein Schicksalsberg nimmt es mir möglicherweise übel, dass ich ihn so lange links liegen gelassen habe oder wollte mich einfach vor eine besondere Herausforderung stellen. „So leicht bekommst du mich nicht. Ich will wissen, ob du es ernst mit mir meinst!“, dürfte wohl seine Überlegung gewesen sein als er mich zielgerichtet um 8 Uhr in der Früh losmarschieren sah. Denn was dann passierte, damit hatte niemand gerechnet.

Butzensee, Mohnenfluh, Schröcken
Butzensee

Ich habe den besorgten stirnrunzelnden Blick meiner Mutter am Vorabend wohl registriert, auch das wohlwollendere „das kann sie schon“-Gesicht meines Vaters, als ich ihnen meinen Entschluss, am nächsten Tag die Mohnenfluh besteigen zu wollen, mitgeteilt hatte. Aber bei mir ist das so, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, ziehe ich das einfach durch. Punkt. Ich startete also wie gesagt um 8 Uhr in der Früh in Schröcken, passierte die Alpe Felle und nahm den Anstieg durchs hintere Felltal bis zum Fuße des Jägersteigs. Und dann passierte es. Ich dachte noch, ich bin irgendwo hineingetreten und es klebt etwas an meinem rechten Bergschuh. Tatsächlich hatte sich aber die Sohle meiner Treter abgelöst und hing nun als Lappen herunter, gerade so als ob er mir die Zunge herausstrecken wollte. „Sch….“, war mein erster Gedanke. Was mache ich? Umkehren war keine Option, obwohl ich nicht einmal ein Drittel der Wegstrecke zum Gipfel hinter mir hatte, denn der Abstieg über den rutschigen und steinigen Weg wäre auch mit herunterhängender Sohle nicht leicht zu bewältigen gewesen. Zum Glück hatte ich ein paar Streifen von kinesiologischem Tape dabei, weil ich mir vor großen Touren immer die Fersen damit tape, um Blasen vorzubeugen. Schlang also das Tape um die Sohle, um sie zu fixieren. Klappte gut und ich konnte weitergehen. Zehn Meter ungefähr. Dann löste sich die Sohle des linken Bergschuhs. „MERDE!!!“, schrie ich in dem Moment, meine gute Erziehung vergessend, laut in die Bergwelt hinaus, in der es außer mir keine weitere Menschenseele zu geben schien. Tape war aus. Anderes Fixiermaterial – Fehlanzeige. Ich untersuchte meinen Rucksack, ob ich irgendwelche Bänder oder Gurte ausbauen konnte – ebenfalls Fehlanzeige. Gut, ein Stirnband hatte ich um den Kopf. Wurscht, dort war es eh überbewertet. Es wurde also kurzerhand zum Fixierband für die lose linke Sohle umfunktioniert. Der Jägersteig war somit (fast) ein Kinderspiel. Wer mit intaktem Schuhwerk die übrigens sehr gut gesicherte und gut instand gehaltene Kletterpassage nicht bewältigt, soll es doch bitte mal mit getapten und stirnbandumwickelten Teilen probieren – geht super! 

Schuhfixierung aus Ersatz-T-Shirt

Bis zu dem Zeitpunkt als das Tape riss. Rücksackbänder fielen ja bereits negativ als Fixiermaterial aus. Was tun? In dem Moment bekam für mich das alte Sprichwort „Not macht erfinderisch“ neue Bedeutung. Mir fiel mein Ersatz-T-Shirt ein, das ich in der Früh noch in den Rucksack gestopft hatte. Schnell entschlossen nahm ich es und zerriss es in Stoffbahnen, die ich um den rechten Schuh wickelte, damit die Sohle hinaufgehalten wurde. Ich verzurrte die Stoff- mit den Schuhbändern und so entstand eine einigermaßen stabile Fixierung. Mit diesem recht passablen Schuhwerk ging es nun weiter zum Butzensee und zum Mohnensattel. Kurze Rast, ganz kurze Überlegung und Blick auf die Schuhe, ob denn der Aufstieg zum Gipfel damit wirklich möglich wäre. Ganz kurze Überlegung wie gesagt, weil natürlich ging ich weiter.

Der Himmel geht über allen auf

Mohnenfluh, Schröcken
Mohnenfluh Gipfel

Hinauf über den steinigen Steig auf den Gipfel. Belohnt mit dem gewaltigsten Panorama seit langem, begleitet von körpereigenen Endorphinen und gesegnet mit dem Gesang der Jugendgruppe, die kurz vor mit den Gipfel erreicht hatte: „Der Himmel geht über allen auf…“, sangen sie und ich geb es zu, ich hatte Tränen in den Augen. Für einen kurzen Augenblick war es fast zu viel an Emotion. Ein Blick auf meine Schuhe genügte und ich war schlagartig rational. Justierte Stirnband (jenes um die Schuhe) und Stoffbänder nach und machte mich an den Abstieg. Bergauf konnten die intakten Schuhfersen einiges abfangen. Im steinigen und rutschigen Gelänge bergab war jeder Tritt ein Abenteuer. Es verfingen sich Steine in der abgelösten Sohle und ich musste verdammt aufpassen, nirgends mit der schlappernden Spitze der Schuhe hängenzubleiben. Auch das gelang. Nach sieben Stunden – guten vier Stunden Aufstieg und knappen drei Stunden Abstieg nach Oberlech – war das Abenteuer überstanden. 

In Lech holte mich mein Vater ab. Als er meine Schuhe sah, lachte er: „Genau dasselbe ich mir auf einer anderen Wanderung auch passiert!“. Na super – Familientradition wird man wohl nur ganz schwer los! Und übrigens: Danke Mohnenfluh, dass du mich trotzdem zu dir hinaufgelassen hast! Ich denke, wir sind jetzt quitt. Und du kannst dir sicher sein: Ich komme wieder. Mit guten Schuhen.

Fotos © Sandra Hribernik

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